Je oller, je doller?
von Ursula , vor einer Minute
Zitat Nichts macht so alt, wie sich krampfhaft auf jung zu trimmen.
„Hu-Huuuuuuu, Heike!“ Eine Frau mit riesiger Sonnenbrille und einem Kostüm mit Minirock, zwei Handbreiten über den Knien endend, winkt von der anderen Straßenseite zu mir herüber.
Die Stimme habe ich schon mal gehört, doch die Person? Ich kann mir Namen schlecht merken, doch hier weiß ich nicht mal, woher ich die Dame kenne, mit der ich mich anscheinend duze.
Sie trippelt mit unsicher wirkenden Schrittchen auf den hohen Hacken über die Straße und fällt mir um den Hals.
„Mensch! Wir haben uns aber schon lange Zeit nicht mehr gesehen! Vor zwei Wochen war noch Marianne zur Dauerwelle bei mir, doch du willst ja anscheinend keine fremde Hilfe bei deinem Haar!“
Nein, ich trage mein Haar wie es ist, wüst und immer leicht ungeordnet. Teilweise in eine Spange gestopft.
Nun dämmert es mir. Das ist Anette, ein Blatt aus dem Glücksklee, wie man uns früher nannte.Seit ich 1997 weg zog, bin ich in meiner Heimatstadt nur noch selten. Damals war ich oft bei Anette im Laden. Meist als Haarmodel für ihre Lehrmädchen. Wer mein Haar bändigen könne, ist reif für die Prüfung, behauptete Anette stets.Unser Glücksklee bestand seit der Schulzeit aus Marianne, Corinna, Anette und mir. Alle wurden wir brave Ehefrauen, doch Anette hatte ein Handicap. So sicher, wie ich aus einem Eimer mit 10 Nieten und 100 Gewinnen die elf Nieten zog, so sicher pickte sich Anette in jeder Disco das größte Ar….loch heraus, das dort weilte.
Während wir drei auf unseren 10. Hochzeitstag zusteuerten, bekam Anette das 3. Kind vom 3. Vater.Anette hatte eine Art an sich, wie man sie Madonna nachsagt, denn die erfindet sich auch stets neu. Für einen Popstar mag das nützlich sein, für eine Privatperson finde ich es anstrengend. Mal lief „An“ im Sari herum und pries die indische Liebeskunst, dann nannte sie sich „Ah-Na“, lernte mit uns Bauchtanzen und pennte mit dem Lehrer, von dem sie ausnahmsweise mal kein Kind bekam.
„Ach, ich muss dir ja soooo viel erzählen, “ warnte sie mich und bugsierte mich in ein Cafe. Während ich vor einem riesigen Erdbeerbecher mit Sahne hockte und schlemmte, nippte Anett an ihrem stillen Wasser mit einem Spritzer Limone.
„Weißt du eigentlich, wie viel Zucker und Fett da drin sind?“ Wie immer war sie genauestens über jede neue Diät und jede gesunde Ernährungsweise informiert.
„Na, zumindest so viel, dass es echt saugeil schmeckt, “ schmatzte ich und schob mir den nächsten vollen Löffel in den Mund.
„An die Kalorien denkst du nicht? Du warst früher doch immer so schlank!“
„Früher wog ich mal sechs Pfund, das ist aber schon lange her und ich bin darüber weg, “ gab ich löffelnd zu und wartete auf den obligatorischen Aufruf an meinen inneren Schweinehund.
Der fiel aus, weil sich gerade ein Mann an den Nebentisch setzte, der das Alter meines Schwiegersohnes nur knapp überschritt.
„Hast du mal mit so einem Schmuckstück im Bett gelegen? Das ist echt toll, “ berichtete sie mir und dreht spielerisch das Glas in ihrer Hand mit den endlos langen, falschen Fingernägeln in drei verschiedenen Farben mit Glitter drauf.
„Klar! Jahrelang! Ich bin mit so einem Schmuckstück verheiratet, er ist immer noch jünger als ich, daran hat sich in 33 Jahren nichts geändert! Die sind wie Wein, werden mit den Jahren besser.“
„Ach, ich meine doch nicht so einen alten Eheesel! Ich rede von Frischfleisch! Ich gehe seit acht Monaten jeden Dienstag und Donnerstag zum Tanzkurs…Merengue! Davon nimmt man prima ab, solltest du auch mal probieren und du solltest den Tanzlehrer sehen!“
Anettes Augen beginnen zu strahlen. Ich bin nicht sicher, ob das vom Gedanken an den Tanzlehrer stammt oder ob sie den Burschen vom Nebentisch angraben will. Der Rock ihres jugendlich geschnittenen Kostüms ist fast unanständig hoch gerutscht. Neben der Cellulite sehe ich Besenreiser…an den Oberschenkeln sind die mir neu. Ich dachte, die gäbe es nur an den Füßen in Höhe der Knöchel.
Im tiefen Ausschnitt entdecke ich die Knitterfalten eines alternden Busens, der auch mit dem Vorzeigemodel aller Wonderbras nicht hochzuschrauben ist.Anette zieht derweil übertrieben lasziv ihre Lippen nach…im Ton Blutrot. Langsam leckt sie darüber und hat wohl die richtige Brille nicht dabei. Vielleicht will sie die auch nicht aufsetzen, weil ihr sonst der jugendliche Touch abhandenkommt. Die rote Farbe des Lippenstiftes kriecht langsam in die feinen Fältchen um ihren ständig lächelnden Mund. Ob es die dicke Schicht Make-up ist, die das Lächeln daran hindert, ihre Augen zu erreichen?
„So langsam könntest du doch mal wieder in meinen Laden kommen, du hast schon ein paar graue Haare, “ bemerkt Anette immer noch mit eingemeißeltem Lächeln.
„Warum? Ich bin Großmutter! Die stehen mir vom Rang her zu! Schließlich sehen wir uns alle die 60 Lenze an, “ nuschle ich immer noch kauend.
„60?? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wir sind grad mal Anfang fünfzig, “ empört Anette sich und mir fällt ein, dass sie fast zwei Jahre älter ist. ICH bin also mit 52 ½ und etwas gutem Willen Anfang 50, sie ist Mitte 50!
„Komm doch heute Abend mit zu der Party! Da wird auch getanzt, hast du doch immer gern gemacht! Da zeige ich dir auch meinen Tanzlehrer, “ schwärmt Anette und irgendwie fehlen mir die Ausreden, ich muss also mitgehen.
Als die Kellnerin kommt, besteht Anette darauf, die Rechnung zu begleichen.„Schließlich bin ich die erfolgreiche Geschäftsfrau von uns beiden, “ erklärt sie mir und fragt, ob ich immer noch keinen Alkohol trinke.„Ich bin meinem Schwur nach dem Vollrausch auf Corinnas Hochzeit treu geblieben. Nie mehr Alk!“„Prima! Dann hol du mich ab, ich trinke gern ein Glas Rotwein, “ erinnert sie mich und muss als Geschäftsfrau natürlich schnell wieder los.
Am Abend hat Anette leichte Schwierigkeiten, mit ihrer hautengen Hose und den hohen Absätzen in meinen Geländewagen zu klettern. Bei der Tiefe ihres Ausschnittes krame ich alle Gesetzte der Physik aus meinem Hinterkopf um zu errechnen, wann ihr die welken Rhabarberblätter herausfallen werden. Dies ist nun kein missgünstiges Gedankengut von mir. Sie selber hat ihre Brüste nach der x-ten Hungerkur als solche beschrieben und das vor mehr als 20 Jahren. Wird sowas mit den Jahren besser? Nööö!
Kurz darauf stehe ich vor Giovanni, dem gelobten Tanzlehrer. Ich lerne augenblicklich…es gibt Paris Hilton auch in männlich! Außerdem ist mir sofort klar, dass Anette bei ihm keinerlei Chancen hat…ihr fehlt der Penis, Bartwuchs ist inzwischen vorhanden, wie ich unter dem leicht verschwitzten Make-up erkennen kann. Tz! So ein Aufwand beim Vertuschen des Alters und dann nicht rasiert!
Die Musik erweckt in mir nicht das Gefühl, den Rhythmus für Merengue zu haben. Trotzdem holt sich Anette nach dem dritten Glas Rotwein einen der jungen, südländisch wirkenden Burschen und tanzt. Bei den jungen Frauen, die anwesend sind, sieht das noch gut aus, bei Anette wirkt es verkrampft und ihr Lächeln wird zur Fratze. Mir ist es peinlich, wie Anette ihre Schultern schüttelt, fern jeden Taktes, der Musik wie des Benehmens. Das Dekolleté verrutscht, ihre Brüste erinnern mich an Karl Dall.
„Oh ne! Sie macht wieder die Memmenschleuder, “ stöhnt einer der Burschen hinter mir eine Spur zu laut.
Ich bin hin- und hergerissen. Die Sache scheint Anette,( nein, Anett, ihr Name hat ein E verloren, ihre Person alles, was sie einmal ausmachte) Spaß zu machen und sie hält nie lange etwas durch. Es wird also wieder vergehen. Soll ich ihr sagen, was ich hörte? Soll ich ihr sagen, dass sie unmöglich aussieht, wenn sie mit verkniffenem Mund in verrutschter Mettwurstpelle einen auf Teeny macht? Sagt man sowas als Freundin? Bin ich das noch? Ist sie es noch? Bei einer Partnerschaft würde ich sagen, wir haben uns in verschiedene Richtungen entwickelt, finden keine gemeinsame Basis, die Ehe ist zerrüttet.
Plötzlich hält mir jemand von hinten die Augen zu und quietscht mit verstellter Stimme
„Wer bin ich wohl?“
Sofort ist mir klar, das kann nur Corinna sein! Tatsächlich! Marianne ist auch da. Anett hat alle “Mädel“ von früher zusammengetrommelt. Corinna im flotten Hosenanzug, Marianne im Etuikleid mit kurzem Jäckchen und ich natürlich wieder nur in Jeans und Bluse. Anett winkt zu uns rüber und schüttelt, was das Zeug hält…wohl nicht mehr lange. Ihr Tanzpartner hat den Blick eines hungrigen Dackels, der hilflos zusehen muss, wie ein Bernhardiner seinen Napf leer frisst.
„Mein Gott, “ stöhnt Marianne „ wie viel hat sie denn wieder intus?“
Ihr gefällt die Darbietung von Anett wohl auch nicht.
„Und? Hat sie dich schon angepumpt?“ Corinna sieht mich fragend an. Mir fällt die erfolgreiche Geschäftsfrau ein, die darauf bestand, im Cafe die Rechnung zu begleichen und so hebe ich nur die Braue und warte auf eine Erklärung, die sogleich folgt.
„Der Laden ist so gut wie pleite! Kein Wunder! Sieh dir mal den Schnitt an, den sie Marianne verpasst hat.“Zum eleganten Kleid wirkt der zerrupft aussehende Lockenkopf von Marianne wirklich etwas zu….frech.
Die Frisuren in den Frauenzeitschriften sehen alle so aus, als wäre der Rasenmäher statt eine Schere darüber gefahren und so fiel es mir nicht weiter auf.„Solche Frisuren schneidet sie jetzt jeder Frau, die nicht schnell genug STOPP rufen kann, darum sind ihr etliche Kundinnen weggelaufen. Gibt ja noch Frauen ohne Jugendwahn, “ flüstert mir Marianne zu.
Kurz darauf steht Anett an unserem Tisch und zwinkert uns zu.
„Raoul und ich gehen jetzt essen, ich wünsche euch noch einen schönen Abend!“
Zack- weg ist sie!
Wir sehen uns etwas verwundert an. Sollte das nicht ein Abend des Glücksklees werden? Gegen Mitternacht sind wir uns einig. Wir sind jetzt nur noch ein Kleeblatt, aber glücklich!
Trotzdem frage ich mich, wo meine wundervolle Freundin geblieben ist, diese ehrliche, natürliche, liebevolle, selbstbewusste, kleine Verrückte von damals….
Autor: h. lavi
Geschrieben: 26.07.2010, 09:43:36
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"Ich bin jemand. Ich bin ich. Ich bin gerne ich. Und ich
brauche niemanden, der mich zu jemandem macht."
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